Ein Jahr sind wir nun schon in China (bzw. sogar schon länger, ich bin nur etwas spät dran mit dem Beitrag). Am 20. Mai 2022 sind wir geflogen und niemals hätte ich gedacht, dass die Zeit hier so schnell vergeht! Dass wir uns hier so wohl fühlen würden hätte ich vor einem Jahr auch nicht gedacht, da wir die Hochphase der Null-COVID-Politik in voller Bandbreite mitgenommen haben. Ich bin ganz ehrlich: hätte sich das nicht geändert – ich weiß nicht, ob ich dann durchgehalten hätte. Aber seit die Phase hier vorbei ist – in anderen Worten: seit es COVID19 hier in China schlicht und einfach nicht mehr gibt – können wir China endlich richtig kennenlernen. Und zwar richtig RICHTIG. Es hat keiner mehr Angst vor uns, weil wir als Ausländer ein tödliches Virus ins Land geschleppt haben ( 😉 ) und ohne die Masken können wir uns gegenseitig lachen sehen. Das erleichtert auch die Kommunikation so sehr! Denn eins haben wir gelernt: Das, was wir vor einem Jahr hier kennengelernt haben, das ist nicht DAS China.
Die Chinesen sind ein sehr geselliges Volk. Abends wird draußen getanzt, gemeinsam gegessen – China ist im wahrsten Sinne des Wortes eine große Familie. Man gewöhnt sich dann auch schnell dran, wenn das eigene Kind mal mèimei (jüngere Schwester) oder jiĕjie (ältere Schwester) gerufen wird, sobald man auf ein anderes Kind trifft. Komplizierter wird es, wenn man die tatsächliche Verwandtschaft durchdringen möchte, da die Wörter für Tante, Onkel, Oma und Opa davon abhängig sind, ob es die Verwandten der Mutter oder des Vaters sind. Das Alter (also jüngste, mittlere, älteste Schwester oder selbiges für Brüder) spielt auch eine Rolle, die sich in unterschiedlichen Vokabeln niederschlägt, die wir im Aufbau unseres Chinesisch-Wortschatzes höchstwahrscheinlich schlichtweg ignorieren werden.
Natürlich ist nicht alles rosarot und goldig. Dennoch fokussieren wir uns auf das, was uns hier gut gefällt – und davon gibt es einiges! Was zum Beispiel seit dem Verschwinden von besagtem Virus zu unseren Highlights gehört, ist – natürlich – das Reisen! Die Philippinen sind quasi um die Ecke und von Hongkong aus können wir so viele tolle weitere Ziele anfliegen. Uns steht sozusagen ganz Asien offen und mittlerweile bin ich total überfordert, was ich während unserer Zeit hier noch alles sehen möchte. China selbst hat schon so viele Orte zu bieten, und nun kommen noch so viele andere Länder hinzu! „Die haben Probleme“, denkt ihr euch bestimmt.. 🙂 Zu meinen persönlichen Lieblingsorten gehören – obwohl mittlerweile schon sooo oft besucht – Macau und Hongkong. Macau war während der Pandemie der erste Ort, den wir mehr oder weniger problemlos bereisen konnten und ich verbinde damit immer noch ein Gefühl von Freiheit. Wir können Macau von unserer Wohnung aus sehen, es ist einfach sooo nah! Und Hongkong ist eine Stunde mit dem Bus oder der Fähre entfernt (Passkontrolle nicht einberechnet), sodass auch das als Tagestrip möglich ist. I love it!
Natürlich gibt es immer noch Situationen, in denen wir uns an den Kopf fassen, selbigen ausgiebig schütteln oder einmal kräftig durchatmen müssen. Aber wenn wir vor einem Jahr noch geschimpft hätten, sind wir mittlerweile deutlich entspannter – oder einfach gesagt, total fàngsōng (=relax). Eines meiner Lieblingswörter!
Während unserer Zeit hier merke ich auch immer wieder, was im Leben wirklich wichtig ist. Familie. Gesundheit. Freunde. Aufrichtigkeit. Freiheit. Viele Dinge erscheinen uns häufig so selbstverständlich, dass man schnell vergisst, wie wichtig sie eigentlich sind. Ein Punkt, der mir hier immer wieder sehr nahe geht, ist bspw. das fehlende Krankenversicherungssystem. Eine geregelte Gesundheitsversorgung ist hier nicht selbstverständlich. In meinem Hinterkopf höre ich jetzt schon den aufgebrachten Ausruf über verschobene Termine, lange Wartezeiten, Mangel an Ärzten und Krankenhauspersonal in Deutschland. Weiß ich doch auch. Darüber können wir uns aber auch deshalb beschweren, weil wir in Deutschland ein an sich sehr gut funktionierendes Krankensystem haben. Denn eins passiert uns in Deutschland mit Sicherheit nicht: Dass wir mit einem gebrochenen Bein nicht ins Krankenhaus gehen, weil wir uns die Operationskosten nicht leisten können. Dass Neugeborenen-Gelbsucht unbehandelt und unbeobachtet bleibt, weil die Behandlung im Krankenhaus zu teuer ist. Nein, das gibt es bei uns nicht, aber hier ist das die Realität. Wenn man miterlebt, wie es in anderen Ländern ist, verliert man selber den hohen Referenzpunkt, den man hat, wenn man sich für längere Zeit im eigenen „Rundum-Sorglos-System“ befindet – und ist dann doch einfach dankbar für das, was man hat.
Was mir an mir selber auch aufgefallen ist, ist mein „neues“ Bild von China. Ich möchte ganz ehrlich sein: Als Thomas vor einigen Jahren vorschlug zusammen nach China zu gehen, war ich zunächst skeptisch. Wir haben es aber von Anfang an als Abenteuer gesehen und versucht, uns möglichst unvoreingenommen in dieses Abenteuer zu stürzen. Die Reaktionen auf unsere China-Pläne waren von Anfang an allerdings sehr durchwachsen. „China?!“ Als ich mit Aurelia vor kurzem in Deutschland war, hatte ich dieses Erlebnis erneut – am Check-in Counter am Flughafen. „Wo geht es hin?“ „Hongkong.“ „Ah, nach China. Da fliegen heute ganz viele Leute hin. Aber Sie fliegen ja in den nicht ganz so heftigen Teil. Die meisten fliegen nach Peking.“ „Oh, ich bleibe nicht in Hongkong. Ich lebe in Zhuhai, das ist Mainland China.“ Offene Bestürzung schlug mir entgegen. Oder Mitleid? Sagen wir es mal so: Das Wissen über China scheint bei vielen Menschen durch die Medien getrieben zu sein, was bedeutet, dass es sich fast ausschließlich auf Politik und Wirtschaft bezieht. Wenn überhaupt. Und auf „Made in China“ – was aber manchen dann doch wieder im wahrsten Sinne des Wortes ganz „günstig“ kommt, oder? Seit wir hier sind, sehe ich mehr als das, was ich vorher von China wusste. Die Menschen auf der Straße, die zusammen lachen. Die Menschen, die mit Hochschulabschluss Essen ausfahren, weil die Wirtschaft unter der Pandemie so gelitten hat. Die Menschen, die mit ihren Kindern auf den Spielplatz gehen, shoppen gehen, essen gehen. Die Menschen, die Verpackungsmaterial sammeln, weil sie dafür Geld bekommen. Die Menschen, die so gesellig sind und seit dem Ende der Pandemie uns gegenüber sehr neugierig geworden sind. Ich sehe den Taxi-Fahrer, der plötzlich anfängt Englisch zu sprechen und sich über meine chinesischen Wörter freut. Das alles, das ist auch China – und da wir hier momentan leben, ist das momentan einfach „unser“ China.
Manche Dinge möchte ich natürlich nicht schön reden (und auch bestimmte Aspekte gar nicht „runterreden“. Ich weiß.). Was ich euch aber mitgeben möchte ist, dass es in China viel zu entdecken gibt, dass es so viele interessante Unterschiede zwischen der chinesischen und unserer Kultur gibt und dass das Essen einfach fantastisch ist!! Und dass man manchmal dankbar sein sollte, für das was man hat.
Unser zweites Jahr in China geht auf jeden Fall spannend weiter! Aurelia kommt bald in einen englisch-chinesischen Kindergarten, wir werden noch ein wenig reisen und von Oktober bis Dezember Besucher hier haben. Wir freuen uns schon und nehmen euch gerne weiter mit auf unsere Reise!:-)
Liebe Alessa, vielen Dank für deinen Jahresrückblick und deine Eindrücke in dieser ereignisreichen Zeit. Schön zu hören, dass ihr in China jetzt endgueltig angekommen seid und ihr es heute mit anderen Augen erlebt. Es ist eine Erfahrung die ihr gerade sammelt die Euer restliches Leben prägen wird. Freue mich das bald auch mit Euch so „Fangsong“ erleben zu dürfen. lg aus NDS